Fenster der Kirche im Mutterhaus der Franziskanischen Gemeinschaft von Betanien

Fenster der Kirche im Mutterhaus der Franziskanischen Gemeinschaft von Betanien in Terlizzi


Die marianische Spiritualität und die FGB

Katechese von Bruder Nicola Curcio vom 18. September 2016

Maria voll der Gnade – Vorbild für uns Menschen

Liebe Brüder und Schwestern, als 1959 P. Pancrazio P. Pio gefragt hat, ob er ihm nicht ein Lebensprogramm geben könnte, schrieb ihm P. Pio auf einem Bild mit der Heiligen Familie:

,,Sei nicht so auf das Beschäftigtsein Marthas bezogen, dass du darüber Marias Schweigen vergisst. Die jungfräuliche Mutter, die sowohl die eine als auch die andere Aufgabe so gut miteinander in Einklang bringt, sei für dich sanftes Vorbild und Inspiration“.

Schon P. Pio weist P. Pancrazio daraufhin, die Mutter Gottes, das Leben Marias als Vorbild und Inspiration zu beachten.

Im Artikel 8 unserer Konstitutionen heißt es: „Die Jungfrau Maria, die, wie das II. Vaticanum sagt, im Herzen und im Leib das Wort Gottes empfing, ist für uns, noch vor dem Haus von Betanien, anregende Ikone der wahren Gastfreundschaft“.

Maria, die Mutter Jesu, gilt für unsere Spiritualität als Vorbild, als Inspiration, als die Ikone der Gastfreundschaft schlechthin.

Maria ist aber eigentlich Vorbild eines jeden Christen. Das II. Vaticanum sagt über Maria: „Wie die Mutter Jesu, im Himmel schon mit Leib und Seele verherrlicht, Bild und Anfang der in der kommenden Weltzeit zu vollendenden Kirche ist, so leuchtet sie auch hier auf Erden in der Zwischenzeit bis zur Ankunft des Tages des Herrn als Zeichen der sicheren Hoffnung und des Trostes dem wandernden Gottesvolk voran“. (LG 68)

Der Weg, den wir „Maria“ nennen, ist eigentlich ein Weg, den jeder Christ gehen sollte. Das Vorbild Marias gilt für einen jeden Jünger Jesu aller Zeit. Unsere marianische Spiritualität ist im Grunde genommen die traditionelle, marianische Spiritualität der Kirche, die durch unser Charisma, welches die drei Aspekte Gebet, Gemeinschaftsleben und Gastfreundschaft einschließt, gelebt wird.

In dieser Katechese werden wir folgendermaßen vorgehen:
Im ersten Teil behandeln wir die Vorbildhaftigkeit Marias für den Christen überhaupt und im zweiten Teil werden wir drei Aspekte ihres Lebens, der Vorbildhaftigkeit Marias, in Verbindung mit unserem Charisma betrachten.

Liebe Br. u. Sr., beginnen wir diese Katechese mit einigen Fragen:
-Warum brauchen wir als Menschen Vorbilder?
-Was bedeutet es, dass Maria für uns Vorbild ist?
-Was ist die wesentliche Eigenschaft ihres Vorbildseins?

Warum brauchen wir als Menschen wir Vorbilder?

Wir brauchen Vorbilder, weil wir als Menschen ein dynamisches Wesen besitzen. Dieses Menschenwesen entfaltet sich bis zuletzt. In anderen Worten, im Menschen befindet sich ein Streben nach einem Bild. Wir könnten sagen, eine gewisse Sehnsucht, sich mit etwas zu identifizieren. Der Mensch neigt, bewusst oder unbewusst, dazu, sich ein Vorbild auszusuchen, dem er ähnlich werden möchte. Ein Modell, das für ihn als Anregung dient, seine Persönlichkeit zu entfalten. Das hat zu tun mit Identität, Berufung, Erfüllung und Vollkommenheit.

Liebe Br. u. Sr., diese Art Sehnsucht im Menschen ist letztendlich unsere Urberufung, die der Schöpfer in uns hineingelegt hat. Gott hat den Menschen erschaffen, damit der Mensch ihm ähnlich wird, ein Kind Gottes wird. Es handelt sich hierbei darum, die Gotteskindschaft zu entfalten: die Sehnsucht, in sich eine bedingungslose Liebesfähigkeit zu entfalten, die frei ist von Anerkennungen und Bestätigungen, die ihre Erfüllung im Lieben selbst findet. Die Bibel berichtet uns: „Seid heilig, wie ich euer Gott heilig bin, seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist, seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“. Ja meine Lieben, wir befinden uns als Menschen in einem Zustand des Werdens. Ganz einfach gesagt, unser Glauben offenbart uns, das unser Menschsein vollkommen sein wird, wenn wir wie Jesus sein werden. Unsere Berufung als Menschen ist es, unserem Herrn ähnlich zu werden in der Liebe.

Genau wegen dieser Veranlagung des Menschen, der sich ganz natürlich wie aus eigenem Antrieb Modelle aussucht, braucht der Mensch Bezugspunkte, an die er sich halten kann, um sich zu entfalten. Der Mensch braucht Menschen, mit denen er sich identifizieren kann, Vorbilder, die ihn irgendwie inspirieren. Leider werden diese Vorbilder oft in den falschen Menschen gesucht. Das sehen wir in unserer säkularisierten Gesellschaft. Man versucht häufig, Stars der Kino- oder der Musikwelt nachzuahmen oder aber mächtige Politiker und Geschäftsleute. Nicht, dass es unter ihnen niemanden gäbe, der vielleicht auch etwas Gutes an sich hätte. Bestimmt ist es aber schwierig, heutzutage in diesen Bereichen jemanden zu finden, der uns den Weg zur Heiligkeit weist durch sein beispielhaftes Vorbild.

In unserer Gesellschaft, so müssen wir leider zugeben, sind kaum noch gute Vorbilder zu finden, die in der Lage sind, dem Menschen gesunde Entfaltungsmöglichkeiten zu zeigen, Vorbilder,die durch ihr beispielhaftes Leben in der Lage sind, dem Menschen die Grundsehnsucht seines Herzen zu offenbaren, die schließlich Gott ist und ihm ähnlich zu werden in der Liebe.

Was bedeutet es, dass Maria für uns Vorbild ist?
Welches ist die wesentliche Eigenschaft ihres Vorbildseins?

Wenn unser Ziel als Christen und als Menschen ist, Christus immer ähnlicher zu werden, dann ist Maria, die Mutter Gottes, das Vorbild schlechthin. Sie war nämlich der erste Mensch überhaupt, der erfolgreich den Versuch unternommen hat, als Christ zu leben. Ihr Leben kann deswegen für jeden, der heute das Gleiche versucht, Hoffnung und Modell sein. Maria hat in der Beziehung zu Gott die Fülle des Menschseins gefunden. So wird ihre Beziehung zu Gott die wesentliche Eigenschaft, die aus ihr ein ehrwürdiges Vorbild macht. In den Etappen ihres Lebens spiegeln sich nämlich die Fragen und auch die Schwierigkeiten eines jeden Menschen, der als Christ leben möchte, genau deshalb kann ihr Lebensweg Modell und Hoffnung sein. Darin, im Vorbild Marias, kann unsere Persönlichkeit ihre Erfüllung finden. Deswegen wird es sich in dieser Katechese zunächst nicht um eine besondere Marienverehrung handeln, sondern um die Bemühung, aus der gleichen Mitte zu leben wie sie, denn sie hat es als Erste geschafft, ihrem Sohn ähnlich zu werden in der Liebe. Sie hat es geschafft, der Liebe Gottes eine vollständige Antwort zu geben. (Auch weil die Marienverehrung, ohne sich Mühe zu geben, wie Maria zu leben, keinen Sinn macht.)

Maria ist die „Begnadete“ (Voll der Gnade)

So wollen wir jetzt in die Tiefe unserer Katechese eindringen. Wer ist Maria? Um zu verstehen, wer Maria ist, müssen wir die Stimme des Erzengels Gabriel hören. Maria wird vom Erzengel Gabriel mit der Bezeichnung „voll der Gnade“ angesprochen, „κεχαριτομένη“ = kecharitoménē auf Griechisch. Was bedeutet das? Mit Hilfe von ein wenig Exegese versuchen wir, besser zu verstehen, was das heißt.

Wir befinden uns im ersten Kapitel des Lukasevangeliums, genau zwischen den Versen 26 und 38, die gemeinsam einen Abschnitt bilden.

Das Gespräch mit Maria beginnt der Engel mit dem folgenden Satz: „Freue dich Begnadete, der Herr ist mit dir“. Dieser Satz – in dem wir die Kennzeichnung Marias „Begnadete“ ANGELICO_Fra_Annunciation_1437-46_2236990916.-323x184jpgentdecken – könnte für uns, Menschen des Westens des dritten Jahrtausends, keine relevante Bedeutung haben, aber für die jüdische, theologische Tradition der damaligen Zeit hat dieser Satz eine enorme, theologische Tiefe. Deswegen möchten wir uns jetzt zusammen diesen Satz anschauen, der aus drei Teilen besteht: „Freue dich“, „Begnadete“, und „der Herr ist mit dir“.

„Freue dich“ („χαίρε“ = chaíre)

Der Engel beginnt mit „freue dich“. Das griechische Wort dafür ist „χαίρε“ = chaíre. Diese Aufforderung des Erzengels Gabriel Maria gegenüber erschließt einen ungeheuren Horizont im Verständnis der Hl. Schrift, die grundsätzlich der Erfüllung des Planes Gottes dient. Den Ausdruck „chaíre“ finden wir im Alten Testament an vier verschiedene Stellen, in Jesaja 12,6: “Freut euch [chaíre] ihr Bewohner von Zion, denn groß ist in euer Mitte der Heilige Israels“, wir finden es in Zefanja 3,14-15: „Freue dich [chaíre] Tochter Zion! Jauchze, Israel! Freue dich [chaíre] und frohlocke von ganzem Herzen, Tochter Israel! (…) Der König Israels, der König Israels, der Herr, ist in deiner Mitte, (…). Weiter finden wir es in Joel 2,21-27: „(…) Freu dich [chaíre] und juble, denn der Herr hat Großes getan, (…) dann werdet ihr erkennen, dass ich mitten in Israel bin (…)“. Und zuletzt finden wir es in Sacharja 2,14: „Freue dich [chaíre] Tochter Zion, denn siehe, ich komme und wohne in deiner Mitte“.

Was uns in diesen Versen auffällt, ist, dass dieses „freue dich“ immer im engen Zusammenhang mit der Verheißung des Messias, mit dem Wunsch Gottes, in unserer Mitte zu sein, steht. Die Freude des Menschen entspringt schlussendlich aus dem Willen Gottes, der sich entschlossen hat, unter sein Volk, unter die Menschen zu kommen und unter ihnen zu wohnen.

Liebe Br. u. Sr., diese Aufforderung des Engels an Maria „freue dich“ (deren Bedeutung wir mit der Übersetzung „sei du gegrüßt“ stark abgeschwächt haben), birgt in sich den Schlüssel, der uns das Verständnis des Planes Gottes erschließt. Dieses Wort „chaíre“ wurde in der Vergangenheit ausschließlich, wie vorher betont, dem Volk Gottes zugewandt mit der anschließenden Verheißung Gottes, er wolle in seiner Mitte wohnen. In anderen Worten wird hier die Verwirklichung der Verheißung des Messias angedeutet, auf welche Israel wartete. An Maria gewendet, bedeutet dieser Aufruf das Hindeuten auf die Verwirklichung des Planes Gottes. Es ist eine Einladung zur messianischen Freude. Das, was der Herr in der Vergangenheit verheißen hat, will er jetzt vollbringen. „Freue dich“ offenbart die Leidenschaft Gottes für den Menschen, den Wunsch Gottes, mit dem Menschen in Kontakt zu kommen, im Menschen und durch den Menschen leben zu dürfen, handeln und wirken zu können. Irgendwie ist in diesem Wort Sinn und Zweck der Offenbarung, der Geschichte und, aufgepasst, des Menschen überhaupt eingeschlossen: Der Wunsch Gottes, sich mit dem Menschen zu vermählen. Deswegen hat Gott alles erschaffen, um die ganze Schöpfung zu bewohnen und so zur Vergöttlichung zu führen.

In diesem Moment verkörpert Maria die Tochter Zion, Israel das Volk Gottes. Wir können auch sagen: Maria stellt in diesem Ereignis die ganze Menschheit dar, die Gott mit sich vermählen will, die Gott bewohnen und vergöttlichen will. Daher ist Maria für uns Vorbild.

Das, was in ihr geschehen ist – die Befruchtung durch den heiligen Geist, die Menschwerdung des Herrn -, sollte in einem bestimmten Sinn auch in uns geschehen. Auch wir dürfen an der Mutterschaft Marias teilnehmen, noch besser, wir verwirklichen unser Menschsein in der Teilnahme an ihrer Mutterschaft. Jedes Mal nämlich, wenn wir ein Wort Gottes in uns eindringen lassen, nehmen wir ein Wort auf, das sich nicht wie andere im Wind auflöst. Es hat nämlich die Fähigkeit, uns geistlich zu befruchten, es erzeugt in uns die Gegenwart Jesu. Kurz, dieses Wort bedeutet Gegenwart Christi, ein Samenkorn, durch welches der Herr in uns eindringt. Wenn das fortgesetzt geschieht, dann wächst Christus in uns und bringt eine gewisse Erfüllung mit, wir werden immer mehr Kinder Gottes, die Gotteskindschaft nimmt in uns fortlaufend mehr Raum ein. So werden wir ihm, Christus, gleichförmig, ein anderer Christus. In diesem Sinne sind wir Mutter für Christus in uns selbst, in diesem Sinne nehmen wir Teil an der Mutterschaft Marias.

Legen wir dann das Wort Gottes auch in andere hinein, passiert das Gleiche. Wir werfen den Samen hinaus; fällt er auf guten Erdboden, wird er aufgenommen, neues Leben bricht in denen auf, die das Wort konkretisieren, es entfaltet sich Christus. So werden wir auch in diesen Menschen Mutter für Christus. Maria ist bestimmt auf außerordentliche, einzigartige und einmalige Art und Weise Mutter des Herrn, wir sind es im geistlichen und gewöhnlichen Sinn.

„Begnadete“ („κεχαριτομένη“ = kecharitoménē)

Nach der Aufforderung „freue dich“ folgt die Kennzeichnung Marias; „Begnadete“ „κεχαριτομένη“ = „kecharitoménē“, der Ausdruck, der uns am meisten interessiert. Dieses Wort „kecharitoménē“ ist ein Partizip Perfekt, es drückt eine vollendete Handlung der Vergangenheit aus, von welcher die Wirkung auch in der Zeit fortdauert. Wir kommen später wieder darauf zurück. In der Bibeltheologie wird dieser Ausdruck auch als theologisches Passiv betrachtet, weil es um eine Handlung Gottes gegenüber einem Subjekt, einer Person geht. Wir könnten es auch so paraphrasieren, umschreiben; „diejenige, die Gott begnadet hat, diejenige, die Gott anmutig, liebenswürdig gemacht hat“. Das hat vor allem mit innerer Anmut zu tun, mit Liebenswürdigkeit in ihrem Verhältnis zu Gott. Liebe Br. u. Sr., was heißt das alles genauer?

img_3970342x720

Hl. Maria in der Kapelle des Kapuzinerklosters

Gott hat Maria liebenswürdig gemacht, so dass sie der Liebe Gottes wert ist und Gottes Wohlgefallen bleibend auf sie gerichtet ist. Gott ist fortwährend von ihr angezogen, weil er weiß, dass in ihr seine Liebe nicht verloren geht. In anderen Worten bedeutet das, dass Maria von Gott fähig gemacht worden ist, in sich die Liebe Gottes fruchten zu lassen, bzw. auf vollkommene Weise der Liebe Gottes zu antworten. Das bedeutet die totale Bereitschaft der Verfügbarkeit gegenüber dem Willen Gottes. Maria ist fähig gemacht worden, der Liebe Gottes in ihr das gewollte Ziel erreichen zu lassen, den ersehnten Zweck zu bewirken. Und das alles, ohne etwas von der erhaltenen Gnade zu vergeuden.

Verstehen wir jetzt, wie Maria die Liebe Gottes anders und tiefer begreift als wir? Für uns bedeutet die Liebe Gottes grundsätzlich, dass Gott uns verziehen hat, Gott hat uns alle Sünden vergeben. Maria kann das nicht sagen, denn sie hat nie eine Sünde begangen. Für sie bedeutet die Liebe Gottes grundsätzlich die Fähigkeit, sich von ihr befruchten zu lassen und damit zuzulassen, dass ihre Existenz umgestaltet wird, wie es die Gnade Gottes bestimmt. Das macht aus Maria ein Vorbild, ein Empfangsmodell der Gnade für uns. Maria zeigt uns durch ihr „Begnadetsein“ den ursprünglichen Plan Gottes, der durch seine Gnade in uns eindringen will und uns verwandeln möchte in Kinder Gottes. Das ist die tiefe Wahrheit des Menschen: von Gott bewohnt zu werden und so seine Natur zu vollenden, indem er immer mehr seinem Schöpfer ähnlich wird.

Zurück zu Maria. Der Bote Gottes gebraucht in seiner Anrede nicht ihren Namen „Maria“, sondern „Begnadete“, dieses ist gleichsam ihr neuer Name. Das ist das eigentliche Kennzeichen ihrer Person und, aufgepasst, auch ihrer Mission, ihres Auftrags. Liebe Br. u. Sr., Maria ist sich tief bewusst darüber, was Gott in ihr bewirkt hat, auch tief bewusst des Wohlwollens Gottes ihr gegenüber. Maria verdankt diese Liebenswürdigkeit und Liebe nicht sich oder ihren Verdiensten. Nicht sie selber, sondern Gott hat sie liebenswürdig gemacht. Aber gleichzeitig ist Maria sich auch dessen bewusst, dass diese Liebenswürdigkeit ihr gegeben ist. D.h., es ist ihr ausdrücklich klar, welche Pflichten sie gegenüber der Menschheit hat. Mit besseren Worten: es bedeutet, dass Maria sich ihrer Mittlerrolle bewusst ist. Wir haben vorher gesagt, dass dieses Wort „Begnadete“ ein Partizip Perfekt ist, das bedeutet eine vollendete Handlung der Vergangenheit, von welcher die Wirkung auch in der Zeit fortdauert. Maria war von Anfang an begnadet, von ihrer Empfängnis an, um den Sohn Gottes zu gebären und sie bleibt begnadet bis in die Ewigkeit, um den Sohn Gottes in den Herzen der Menschen zu gebären, dies bleibt ihre permanente Aufgabe.

Liebe Br. u. Sr., das einzigartige am Vorbildsein Marias ist, dass sie nicht nur einfach Vorbild ist, indem sie uns den Weg weist – das natürlich auch -, sondern sie ist uns auch Vorbild, indem sie uns an ihrer Liebenswürdigkeit teilnehmen lässt. Sie lässt uns teilnehmen an ihrer Fähigkeit, der Gnade Raum zu geben, der Gnade zu ermöglichen, ihre Wirksamkeit in uns auszuüben. Das ist das Geheimnis Marias, deswegen wird sie schon seit jeher in der Kirche in besonderer Art und Weise verehrt.

Mit anderen Worten, sie lässt uns teilnehmen an ihrer Gabe, der Gabe Gottes, unbefleckt zu sein. Denn nur in einem unbefleckten Herzen kann die Gnade Gottes den ersehnten Zweck erreichen. Das klingt vielleicht ein bisschen provokatorisch oder sozusagen „zu marianisch“, aber das ist die eigentliche Aufgabe Marias, das ist die Berufung Marias; wie schon erwähnt, Jesus in uns zu gebären, zu entfalten durch ihr unbeflecktes Herz. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen uns und Maria: unser Herz ist befleckt, unfähig mit der Liebe Gottes zu korrespondieren, das Herz Marias ist unbefleckt, fähig mit der Liebe Gottes zu korrespondieren.

D.h., wir sind mit der Erbsünde behaftet, Maria nicht. Um besser zu verstehen; unser Herz ist voller Risse oder wie mit Löchern übersät, wie ein Sieb, unfähig, das Wasser der Gnade zu enthalten. Wir verlieren sie rasch, wie wenn wir in einen löchrigen Behälter Wasser hinein füllen, das Wasser läuft sofort wieder heraus und geht verloren. So sind wir unfähig, der Liebe Gottes eine vollkomme Zustimmung und Kooperation zu schenken. Im Gegensatz dazu ist Maria der Behälter ohne Löcher und Risse. In ihr geht auch das Geringste der Gnade nicht verloren, alles bringt Frucht in ihr. Sie ist der gute Boden, von welchem Jesus uns im Evangelium berichtet, der gute Boden schlechthin, in dem der Samen des Wortes Gottes sich nicht nur dreißig-, sechzig- oder hundertfach vervielfacht, sondern unendlich multipliziert. Maria hat den historischen Gott und Menschen Jesus von Nazareth geboren und sie gebiert auf geistliche Weise Jesus im Herzen aller Menschen, die dies zulassen und es wollen und auch in den Herzen derer, die es unbewusst wollen. In diesem Sinn ist Maria die Mutter Gottes, der Kirche, der Gläubigen, der Menschen überhaupt. In diesem Sinn übt sie ihre göttliche Mutterschaft auf die Menschen kraft ihres unbefleckten Herzens aus.

Das ist die Intuition, die allen Heiligen unterliegt, die von einer besonderen „Weihe an Jesus durch Maria gesprochen haben“. Der Hl. Ludwig Maria Grignion de Montfort, der Hl. P. Pio v. Pietrelcina, der Hl. Maximilian Maria Kolbe, der Hl. Johannes Paul II, sein „totus tuus“ kommt genau von dieser Denkschule und noch viele andere, die wir jetzt nicht zitieren. Jede Gnade fließt durch das unbefleckte Herzen Marias. Und dies nicht, weil es die Kirche entschieden oder bestimmt hat und auch nicht, weil Gott uns sagen will, wir seien unwürdig und unwichtig, sondern ganz im Gegenteil, um uns seiner Liebe würdig zu machen, um uns den Weg seines Heils zugänglich zu machen. Kurz und einfach gesagt, Maria macht uns durch ihr Begnadetsein möglich, was uns geistlich unmöglich wäre kraft unserer Sünden. Maria ist eine Gabe Gottes für die Menschheit aller Zeiten.

„Der Herr ist mit dir“ („ὸ κύριος μετά σοὖ“ = ó kyrios metá soú)

So kommen wir zum dritten Teil dieses wichtigen Satzes. Der Bote schließt seinen Gruß mit der Zusicherung: „Der Herr ist mit dir“. Dieser letzte Teil des Satzes, mit dem wir uns auseinandersetzen, ist auch nichts Neues. Diese Zusicherung wurde nämlich in der biblischen Tradition denjenigen zugewendet, die Gott zu einer großen Aufgabe berufen hat und die er mit ihrer Aufgabe nicht alleine lässt. Im Buch der Richter (6,12) zum Beispiel, begrüßt der Bote Gottes in ähnlicher Weise Gideon, der Israel von der Unterdrückung durch die Midianiter befreien soll: „Der Herr ist mit dir, du starker Held“. Und in Josua 1,9 heißt es im Bezug mit der Berufung Josuas, der die Aufgabe hatte, das Volk in der Besiedlung im Land Kanaan einzuführen: „Sei mutig und stark, fürchte dich nicht, und hab keine Angst, denn der Herr, dein Gott, ist mit dir bei allem, was du unternimmst“. Dass Maria diese Zusage gemacht wird, weist über das Bisherige hinaus. Es bereitet darauf vor, dass Gott sie zu einer großen Aufgabe im Dienst des Volkes Gottes berufen hat und dass er sie an die Seite der großen Berufenen des Gottesvolkes stellt.

Wir fassen kurz zusammen: In diesem bedeutenden Satz ist die Berufung Marias enthalten. Maria verkörpert das ganze Volk Israel, die ganze Menschheit, an welche die Verwirklichung der Verheißung Gottes, in ihre Mitte als Retter zu kommen, gerichtet wird. Deswegen wird Maria begnadet von der Empfängnis an –unbefleckt zu sein-, um diesem Plan zu dienen. D.h., sie wird fähig gemacht, dem Herrn eine vollständige Antwort in der Liebe zu geben und das gleiche sollte sie in den Herzen der Menschen fördern und tun bis an das Ende der Welt. Und für diese Aufgabe genießt sie einen besonderen Beistand Gottes, deswegen ist Maria so viel „Fürsprache-Macht“, „Herrschaft und Einfluss“ über die Seelen gegeben worden, weil ihr viel anvertraut wurde.

 Maria ist Vorbild für uns Menschen

Bis jetzt haben wir die Ansätze der Berufung und die Rolle Marias behandelt. Jetzt wollen wir schauen, wie Maria uns durch das Beispiel ihres konkreten irdischen Lebens ein Vorbild sein kann, und wie die Aspekte ihres Vorbildseins in Verbindung mit den drei Säulen des Charismas der FGB stehen. Wir nennen sie, das sind das Gebet, das Gemeinschaftsleben und die Gastfreundschaft.

  1. Vorerst belehrt Maria uns „Ja zu sagen zum Willen Gottes“. Und zwar handelt es sich um eine freudige Zustimmung. Wenn wir die Antwort Marias an den Erzengel Gabriel mit Hilfe des griechischen Textes betrachten, fällt uns auf, dass das Verb im Satz: „es geschehe nach deinem Wort“ in der optativen Modalität gesprochen wird. Diese Verbmodalität drückt im Griechischen Sehnsucht aus, eine Art Verlangen. Wir könnten „es geschehe mir nach deinem Wort“ auch so übersetzen: „Ich sehne mich nach deinem Willen, ich bin froh es zu vollziehen, ich kann es kaum erwarten, genau dafür existiere ich“. In dieser Antwort spiegelt sich die Hauptsehnsucht Marias, die sie immer schon beseelt hat kraft ihres Unbefleckt-Seins.

Die Tradition lehrt uns, dass Maria bereits als Kind zum Tempel gegangen war, um Gott ihr ganzes Leben in der Jungfräulichkeit zu weihen. Irgendwie stand sie schon als Kind in dieser Sehnsucht; dass der Wille Gottes geschehe. Genau diese Sehnsucht – die Verwirklichung der Verheißungen Gottes -, die sie schon immer beseelt hat, bewirkt, dass Maria bei der Verkündigung bereit war, dem Willen Gottes mit Freude „Ja“ zu sagen. Die Folge dieses ,,Jawortes“ ist eine neue Wirklichkeit, Jesus beginnt sich in ihrem Schoß zu formen, er beginnt zu wachsen.

Liebe Br. u. Sr., Ähnliches ereignet sich auch im Leben eines Christen, der sich danach sehnt, mit seinem ganzem Leben, Herzen, Denken und all seiner Kraft, Jesus Willen zu suchen und diesen zu erfüllen. Oft bleibt unser Glaubensleben steril, weil wir noch zu wenig hoffen, dass sich der Plan Gottes, da wo wir leben, verwirklicht. Denn man muss viel hoffen, damit sich ein wenig des Planes Gottes erfüllt. Je mehr wir in unserem Alltag hoffen und uns danach sehnen, dem Heilsplan Gottes zu dienen, umso mehr wird sich Gott uns offenbaren und uns gebrauchen für diesen Zweck. Wie kann uns Gott gebrauchen, wenn wir unsere Tage benutzen, um uns um uns selber zu kümmern? Wenn wir total auf uns fixiert sind? Maria willigte ein. Sie sagte ,,Ja“ zu kosten ihrer eigenen Pläne und Ansichten. Das machte aus ihr die „Gottesgebärerin“, die der Menschheit Gott geboren hat. Wenn nun auch wir uns anstecken lassen von der gleichen Sehnsucht Marias für die Verwirklichung des Reiches Gottes und uns öffnen durch das Jawort mit allen Konsequenzen, die aus diesem Ja folgen, dann geschieht Ähnliches in uns wie bei Maria und den Heiligen. In unserem Herzen beginnt geheimnisvoll, aber doch ganz wirklich, Christus zu wachsen und sich zu entwickeln.

Diesen Aspekt des Lebens Marias sehen wir in engem Zusammenhang mit unserem Gebetsleben. Das Gebet ist nämlich der Ort, wo alles beginnt. Da erfahren wir die Liebe, die Gott für uns nährt, die in uns die Sehnsucht nach dem Willen Gottes entzündet. Das Gebet ist der Ort, wo wir das Licht des Willens Gottes erfahren und gleichzeitig ist es der Ort, wo uns die Kraft und die Fähigkeit, den Willen Gottes zu tun, verliehen wird. Das Gebet ist der Ort, wo wir täglich unseren Willen dem Willen Gottes beugen.

  1. Vom Beispiel Marias lernen wir auch die Wichtigkeit in diesem Prozess „Sich aufzumachen um zu helfen“. Einige Tage nach der Verkündigung, als sich nun das Geheimnis Gottes in ihr erfüllte, machte sich Maria auf den Weg, um Elisabeth beizustehen. Sie ging also nicht zu ihr, um ihr zu erzählen, was Gott in ihr gewirkt hatte – ich meine, stellt euch vor, Maria wurde, in einfacher Sprache, von Gott geschwängert, sie trug in sich den Retter der Welt, den Allmächtigen, den Schöpfer – sondern sie ging zu ihr, um ihr zu helfen. Aber was passiert? Als sie bei Elisabeth eintritt, traf sie auf einen Menschen, der offen war für die Wirklichkeit Gottes. Wir kennen die Antwort der Hl. Elisabeth: „Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? In dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.“

Liebe Br. u. Sr., von Maria lernen wir, uns den anderen gegenüber zu öffnen, nicht mehr in unserer egoistischen Welt zu leben. Wir lernen, dass unsere Mitmenschen wichtiger sind als wir. Nicht ich bin das Zentrum des Universums, sondern Jesus, und durch Jesus sind die anderen das Zentrum meines Lebens. Diese Art Dezentralisationsprozess sieht nicht ab von Schwierigkeiten und Schmerzen, ja es handelt sich in gewisser Weise um einen Tod des eigenen Ich, der weh tut. Aber die Früchte sind etwas Wunderschönes, denn diejenigen, denen wir entgegengehen, um unsere Hilfsbereitschaft, Offenheit, Verfügbarkeit – auf jeder Ebene – anzubieten, werden Gott erfahren, wenn sie ein offenes Herz haben, sowie es bei Elisabeth der Fall war. Der Christ ist nämlich nicht derjenige, der im Dienst sich selber bringt, sondern derjenige, der Gott mit sich bringt, derjenige der durch seinen Dienst, durch seine Liebe Jesus in den Herzen der Menschen gebärt. (Bsp. Mutter Teresa, 2 Std. Gebet)

Liebe Br. u. Sr., das war die süße Qual Marias. Die Menschen zu Gott zu führen, indem sie Gott in die Herzen der Menschen gebracht hat, dafür lebte sie. Und Achtung, vor allem dadurch kommt Maria uns zu Hilfe. Wir können in jedem Fall alle unsere Anliegen vor Maria bringen und sie um jede Art Gnade bitten, aber vergessen wir nicht, dass die eigentliche Gnade, die Maria für uns erbittet, die Gegenwart Gottes ist für uns und in uns, dafür existiert Maria, das ist ihre Berufung. Und durch ihre Hilfe nehmen auch wir Teil an dieser Berufung.

In dieser Dimension des Lebens Marias sehen wir unser Gemeinschaftsleben. Gemeinschaftsleben bedeutet, die innere und äußere Haltung der Offenheit gegenüber unseren Schwestern und Brüdern zu pflegen, die Bereitschaft, gegenseitig Liebe zu schenken, indem man den anderen Platz lässt und indem man die Lasten eines dem anderen trägt. Es ist die fortwährende Übung, offen zu sein für den anderen im Bewusstsein, dass Jesus der Vermittler jeder einer Beziehung ist. Die Gegenwart Jesu in mir und in meinem Bruder oder meiner Schwester macht aus der Beziehung eine authentische Beziehung, in der man nicht sich selber sucht sondern den Willen Gottes und seine Herrlichkeit.

  1. Ein weiterer Aspekt des Lebens Marias ist die Fähigkeit, Christus zu schenken. Sie befähigt uns, der Welt Christus zu schenken. Ein weiterer Abschnitt im Leben Marias, der auch für uns bildend und beispielhaft ist, ist die Geburt Jesu. Maria schenkt der Welt Jesus. Wenn wir das Wort des Evangeliums vollständig verstanden haben und dem Wort die Möglichkeit geben, sich in uns zu entfalten, dann dringt eine andere Denkweise in uns ein. Wir werden vom Wort selber fähig gemacht, zu unterscheiden zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, zwischen dem alten Menschen in uns und dem neuen Menschen in uns, der im Endeffekt Jesus ist.

Wenn wir zum Beispiel mehrere sind, die das Evangelium Jesu Christi ernst nehmen, dann verwirklicht sich das neue Gebot Jesu: “Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe, sollt ihr auch einander lieben“. Was ist die Folge daraus? Liebe Br. u. Sr., unter uns, in unserer Mitte wird in geistiger Weise Jesus geboren, er wird gegenwärtig, überall, wo wir leben, in der Familie, auf der Arbeit, in der Schule, im Freundeskreis. Überall können wir lebendige Zellen des Leibes Christi sein und ihn auch aufbauen. Wenn wir das Evangelium ausleben, dann ist es uns möglich, der Welt auf geistige Weise Christus zu schenken, so wie Maria ihn geschenkt hat, weil er das Zentrum ihres Lebens war, alles drehte sich um Jesus. Nur wenn Jesus unser Zentrum ist, werden wir fähig, Jesus zu schenken.

Das ist das Ziel unserer Gastfreundschaft: Jesus schenken durch unsere Gastfreundschaft. Den Menschen, denen wir begegnen, die Gegenwart Jesu schenken, das vor allem durch unser Gemeinschaftsleben.

Eigentlich hängt Gebet, Gemeinschaftsleben und Gastfreundschaft sehr eng zusammen, das eine kann vom anderen nicht absehen. Im Gebet machen wir uns geräumig für das Wirken Gottes, welcher konkret wird im Gemeinschaftsleben und sich verwirklicht in der Gastfreundschaft, indem wir uns wie Kanäle zu Verfügung stellen, Jesus zu schenken.

Wir fassen zusammen: Die Eigenschaft Marias, die aus ihr ein würdiges Vorbild macht, ist ihre Beziehung zu Gott. Diese baut sie auf durch ihr Sehnen nach dem Willen Gottes, was sie seit jeher beseelt hat und durch welches sie ein freudiges „Ja“ sagt zum Willen Gottes. Das ist auch Ziel unseres Gebetes. Die zweite Eigenschaft ist, wie Maria sich öffnet, um zu helfen, im Bewusstsein, dass ihr Helfen ein Ziel hat: Jesus der Welt zu schenken, nicht sich selber. Mit dem Wort „Helfen“ meinen wir hier nicht das banale, bloße und temporäre Helfen, sondern es handelt sich um eine innere, existenzielle Haltung, die uns dauernd beeinflusst für die Herrlichkeit Gottes zu leben und nicht für sich selber. Die uns wiederholt erinnert, dass unser Leben in dem Maße Sinn hat, wie wir es schenken, bzw. wie wir es für die Ursache Jesus und für sein Reich investieren. Das konkretisiert sich bei uns im Gemeinschaftsleben. Und weiter, Maria belehrt uns, in diesem Geist zu leben, der als Folge die Gegenwart Jesu erzeugt, in uns, in den anderen und in der ganzen Welt, wo wir auch sind, wirken und leben. Das ist der Zweck unserer Gastfreundschaft.

Wir beenden diese Katechese mit einem Satz des P. Pancrazio, den er ab und zu wiederholte: „Ave Maria (gegrüßt seist du Maria), sei mein letztes Wort hier auf der Erde und das erste Wort, wenn ich durch die Barmherzigkeit Gottes die Schwelle der Pforte des Himmels betreten werde. Sei du gegrüßt, Pforte des Himmels“!